Alice Liddell´s geheime Geschichte
Ein Essay über Lewis Carroll, verlorene Unschuld und das Schweigen der Welt
Stell dir vor, du öffnest ein Buch, das du seit deiner Kindheit kennst. Ein Buch, das nach Geborgenheit riecht, nach Fantasie, nach einer Zeit, in der fast alles möglich war. Du schlägst es auf, erwartest pure Magie – doch findest auch tief verborgene Abgründe darin.
Das ist Dir bisher nicht aufgefallen?- Doch von nun an spürst Du es unwiderruflich!
„Alice im Wunderland“ – das große Märchen über Neugier,
Verwandlung und das Staunen eines Kindes. Doch was, wenn es gar kein Märchen
war? Was, wenn es die chiffrierte Beichte eines Mannes war, der sich selbst
nicht mehr im Spiegel erblicken konnte? Ein Mathematiker, Philosoph, Rebell –
und zugleich ein Mensch, dessen verborgene Begierde an der Grenze des Sagbaren
begann.
Der Mann, der Alice nicht nur erfand
Oxford, 1862. Ein warmer Tag auf der Themse. Drei Schwestern im Boot. Und ein Mann, der Geschichten erzählt, so lebendig, dass selbst das Wasser kurz aufhorcht.
Sein Name: Charles Lutwidge Dodgson – besser bekannt als Lewis Carroll.
Er war alles, was man im viktorianischen England nicht sein durfte: zu klug, zu empfindsam, zu neugierig auf das, was hinter der Oberfläche lag. Ein Mann, der Logik wie Poesie behandelte, der in Zahlen Schönheit sah – und in Kindern die einzige Form von Reinheit, die er noch zu erkennen glaubte.
Er schrieb, fotografierte, notierte akribisch jedes Gefühl, jeden flüchtigen Gedanken. Und unter all den Namen, die in seinen Notizbüchern standen, tauchte einer immer wieder auf: Alice Liddell. Zehn Jahre alt. Neugierig. Lebendig. Sein Lieblingsmodell, seine Muse – sein Wunderland.
Alice war real – keine Erfindung. Genauer gesagt: Alice Pleasance Liddell (1852–1934). Sie war die Tochter von Henry Liddell, Dekan des Christ Church College in Oxford, wo Carroll als Mathematikdozent arbeitete.
Das Schweigen beginnt
Als Carroll 1898 starb, tat seine Familie etwas, das man nur tut, wenn man Angst hat, dass jemand zu viel erfährt. Sie nahmen seine Tagebücher – und schnitten Seiten heraus. Nicht zufällig, nicht beiläufig, sondern gezielt: genau die Passagen, die seine engste Zeit mit Alice betrafen.
Stell dir diese Szene vor:
Ein dunkles Arbeitszimmer. Der Geruch von Pfeifentabak, das Ticken einer Standuhr. Draußen die Glocken von Christ Church College. Im Innern: Leute, die sich zögernd um einen Schreibtisch versammeln. Sie schlagen das Buch auf – und plötzlich Stille. Ein scharfes Einatmen. Dann das metallische Schnappen einer Schere. Papier fällt, wie Haut, die abgezogen wird. Und mit jeder herausgeschnittenen Seite verschwindet ein wichtiges Stück Wahrheit im Kaminfeuer.
Das, was bleibt, ist Schweigen. Ein Schweigen, das bis heute nachhallt –
zwischen Carrolls Genie und seiner Dunkelheit, zwischen seinem Drang, die Welt
zu erhellen, und seiner Unfähigkeit, das eigene Begehren offen zu benennen.
Der Aufklärer im Mantel des Wahns
Lewis Carroll war ein Rebell – nur einer, der in Gleichungen sprach. Er verachtete Heuchelei, religiöse Dogmen, blinden Gehorsam. Er spottete über die viktorianische Ordnung, die Kinder disziplinierte, Frauen unterwarf und Moral als Käfig verkaufte.
Doch er wusste, dass man Wahrheit in jener Zeit nicht laut aussprechen durfte. Also versteckte er sie – in Rätseln, Spiegeln, Absurditäten.
„Alice im Wunderland“ war kein Kinderbuch. Es war ein verschlüsselter Protest gegen die Welt, in der er lebte.
Der verrückte Hutmacher, vergiftet von Quecksilber. Die Königin, die Köpfe rollen lässt. Das Kind, das wächst, schrumpft, sich verliert. Alles Symbolik. Alles Kritik. Er hielt der Gesellschaft den Spiegel vor – und sah darin sich selbst.
Den Mann, der Wahrheit liebte, aber nie wagte, sie zu offen auszusprechen.
Die unsagbare Leidenschaft
Und doch war da etwas, das nicht in Worte passte. Etwas, das brannte und zugleich beschämt machte. Eine Faszination für die Unschuld. Für das kindlich Unberührte.
Carroll umgab sich mit Kindern, schrieb ihnen Briefe, machte Fotos – viele davon harmlos, andere… schwer einzuordnen. Er sah in ihnen keine Sexualität, behaupteten zumindest später seine Verteidiger, sondern Reinheit. Vielleicht glaubte er das sogar.
Aber die Grenze, die in seinem Inneren verlief, war hauchdünn.
Was ist, wenn seine Leidenschaft nicht körperlich, sondern metaphysisch war? Nicht der Wunsch, zu besitzen – sondern nie wieder erwachsen zu sein? Nicht die Gier nach Fleisch, sondern nach Reinheit, die er in sich verloren hatte?
Was wenn dem nicht so ist..?
Die Gesellschaft schwieg. Weil sie selbst Schuld trug. Weil in einem
Zeitalter, in dem Kinderarbeit normal war, niemand über „Zuneigung“ reden
wollte. Und so wurde aus dem Mann, der aufklären wollte, ein Gefangener seines
eigenen notgedrungenen Schweigens.
Der doppelte Carroll
Hier liegt das Paradox: Carrolls Geist war Licht – seine Sehnsucht Schatten. Er kämpfte gegen Macht, Kirche, Unterdrückung – und konnte zugleich seine eigene Obsession nicht bekämpfen.
Er, ein Wahrheitssucher, erfand das vielleicht schönste Lügenbuch der Welt. Ein Märchen, das uns lehren sollte, die Welt zu hinterfragen, aber auch, sie zu beschönigen, wo sie zu schmerzhaft war.
Die Herzkönigin steht für Macht, die Hutmacher für Wahnsinn, das weiße Kaninchen für die Flucht in das Unbewusste. Doch Alice – sie steht für das, was Carroll selbst nie mehr sein konnte: unschuldig, neugierig, frei.
Und so fällt der Mathematiker in seinen eigenen Kaninchenbau, verliert sich in Rätseln, Formeln und Fantasie – und schreibt ein Buch, das viele Generationen nach ihm noch Menschen verzaubert, weil es zugleich bekennt und vertuscht.
Das verbrannte Vermächtnis
Was genau in den gelöschten Tagebuchseiten stand, weiß niemand. Man vermutet ein Geständnis, vielleicht eine Liebe, die nicht sein durfte. Vielleicht auch nur die Scham über Gedanken, die er nicht einordnen oder zugeben konnte.
Doch das Schweigen seiner Familie war kein Zufall. Es war ein Reflex, wie ihn jedes Zeitalter kennt, wenn jemand zu tief in den Spiegel schaut.
Die Wahrheit über Lewis Carroll ist kein Skandal. Sie ist ein Lehrstück über das, was Gesellschaften tun, wenn jemand ihr Bild von Moral infrage stellt – und dabei selbst an ihrer Grenze zerbricht.
Vom Opium zur Moral
Während im viktorianischen England Laudanum in jedem Haushalt stand – Opium, das man Säuglingen gegen Zahnschmerzen gab – predigte dieselbe ach so feine Gesellschaft manisch über Tugend.
Kinder starben an Drogen, Arbeiter an Quecksilber, Frauen an Armut – und ein Mathematiker wagte es, diese Welt in einem Märchen zu spiegeln.
„Trink mich“, steht auf der Flasche, und das Kind wächst, schrumpft, verliert sich. Kein Zauber. Keine Magie.
Nur ein Spiegel auf eine Zeit, die Gift mit Moral überzog.
Der Preis des Schweigens
Wenn man genau hinhört, klingt „Alice im Wunderland“ nicht nur verspielt, sondern verzweifelt. Die Absurdität ist Tarnung. Das Lachen: Selbstschutz.
„Wer in aller Welt bin ich?“ fragt Alice.
- Eine kindliche Frage – oder eine, die Carroll an sich selbst richtete?
Die Antwort blieb aus. Stattdessen vergrub er sie zwischen Gleichnissen und Paradoxien. Und als er starb, vergruben andere den Rest.
Das Wiederkehren der Schatten
Doch die Geschichte hört hier nicht auf. Denn das Muster wiederholt sich – immer wieder. Ein Jahrhundert später heißt das Schweigen nur anders:
- Epstein. Hollywood. Politik. Kirche.
- Andere Namen, dieselbe
Struktur.
Es ist eine immer wiederkehrende Bühne mit wechselnden Darstellern, die alle Player durch eines miteinander verbindet: Sie haben einen düsteren, verborgenen Zugang zu ihrer dunklen Seite.
Männer mit Macht, die sich an Unschuld wärmen, Gesellschaften, die erst wegsehen – und dann völlig entsetzt fragen, wie das passieren konnte.
Man löscht Dateien, vernichtet Beweise, schließt Archive. Genau wie Carrolls Familie. Immer mit demselben Reflex: Schützen, was nicht zu retten ist.
Bewahren, was längst verfault.
Das Kind in uns
Vielleicht geht es am Ende gar nicht um Schuld oder Unschuld. Sondern um die Angst vor dem Erwachsenwerden – vor der Verantwortung, die Wahrheit zu sehen, und nicht länger in Märchen abfließen zu lassen.
Carroll schrieb, um sich selbst zu retten. Sein Wunderland war keine Flucht – es war Therapie. Er wusste, dass er verloren war, und schenkte der Welt eine Geschichte, in der wenigstens das Kind überlebt.
Nur das Kind in sich selbst konnte er nicht retten.
Wenn die Flamme wieder aufflackert
Stell dir vor, jemand hätte jene Tagebuchseiten nicht verbrannt, sondern versteckt – irgendwo, in einem englischen Speicher, zwischen Mottenkugeln und vergilbten Notenblättern.
Du findest sie.
Du schlägst sie auf.
Und da steht nichts
Obszönes.
Nur ein einziger Satz:
Würde man ihn dann verurteilen – oder verstehen? Vielleicht beides. Denn
Wahrheit ist nie sauber. Sie kratzt, stinkt, verletzt.
Und sie brennt, wenn man sie berührt.
Persönliche Schlussnote
Ich schreibe diesen Text, weil mich das Thema nie losgelassen hat. Nicht wegen der Moral. Nicht wegen des Skandals. Sondern wegen des bis heute üblichen Schweigens.
Wir leben in einer Zeit, die alles aufdeckt und doch kaum einer etwas versteht. Wir verurteilen, bevor wir begreifen. Wir brandmarken, bevor wir zuhören.
Lewis Carroll war weder Monster noch Heiliger. Er war ein Mensch, gefangen in seiner Zeit – mit einem Kopf voller Licht und einem Herzen voller Schatten.
Und vielleicht liegt genau darin der Punkt: Dass Wahrheit selten auf einer Seite steht. Dass selbst Aufklärung tiefe Abgründe kennt. Und dass das, was wir gern in anderen verdammen, oft nur unser eigenes Unbehagen widerspiegelt.
Wenn du das nächste Mal durch den Kaninchenbau fällst – in Nachrichten, Skandale, Absurditäten, moralische Urteile – frage dich:
"Was ist wirklich „verrückt“
– der Hutmacher oder die Welt, die
ihn erschaffen hat?
– oder eventuell etwas völlig Anderes?"
Vielleicht ist es Zeit, wieder hinzusehen. Nicht, um zu richten. Sondern
um zu begreifen, dass hinter jeder Grinsekatze jemand steht, der bitter
gelernt hat zu lächeln – damit niemand erkennt, wie schmerzhaft seine Wahrheit
wirklich ist.
Und es ist wieder geschehen, dass der Weihnachtsmann verraten wurde. Doch das Thema hinter "Alice im Wunderland" ist einfach zu wichtig um es hinter Vorhängen zu verstecken.

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